Gedankeninseln
Ich hatte heute gleich mehrere Eingebungen innerhalb so kurzer Zeit, dass ich mein Notizbuch damit schlicht nicht strapazieren konnte. Da war die russische Referentin eines Vortrags, die ich wegen ihres Nachnamens erst einmal fragen musste, ob sie denn überhaupt aus Russland kommt. In dem Vortrag ging es um Mikropolitik und um Sätze mit seltsamen Verbpositionen, was das Verständnis leider arg beeinträchtigte. Der Nachname aber, der als erster und letzter Eintrag in meinem Notizbuch landete, endete mit „-ov“, was mich zu der Frage nach ihrer Herkunft brachte.
Ursprünglich, so dachte ich nämlich, sei es so gewesen, dass Nachnamen, die auf „-ov“ enden, Menschen aus der Ukraine oder aus Weißrussland produzieren, während die Nachnamenendung „-ow“ den Russen vorbehalten sei. Eine seltsame Beobachtung, ich weiß, aber mein System hatte bis dahin meist funktioniert, so dass ich mir ziemlich sicher war nach den vielen Fragerunden, die ähnlich konsternierte Gesichter hervorgerufen hatten wie das von heute – man stelle sich nur vor: in einem gut gefüllten Seminarraum zu sitzen, zu schwitzen und aufgeregt zu sein, weil gleich ein Referat zu einem Thema ansteht, das kritisch beäugt wird von den Seminarteilnehmern und noch kritischer vom Dozenten selbst, und dann kommt da so ein Typ, liest sich das Deckblatt der Powerpointpräsentation durch und fragt nach der eigenen Herkunft, weil der Name natürlich auch auf dem Titelblatt zu finden ist; das bringt einen doch völlig aus dem Konzept.
Sie sagte mir jedenfalls, sie komme aus Russland. Das nötigte mich dazu, eine kleine Notiz in mein Büchlein zu schreiben, woraufhin meine Banknachbarin fragte, ob dies ein Tagebuch sei. Ich verneinte und schrieb weiter an meinem kleinen Absatz zur Namenskunde. Ich überlege mir ja immer, warum, wer worauf zu kommen scheint, und es war ziemlich schnell klar, dass die Datumsanzeige, mit der ich den ersten Absatz eines Tages zu kennzeichnen pflege, die Frage nach dem Tagebuch herausgefordert hatte. Und kurz bevor das Seminar dann beginnen sollte, sagte ich der Referentin deshalb auch, weshalb ich sie so aus dem Konzept bringen musste: nämlich wegen meiner Beobachtung der Nachnamenendungen „-ov“ und „-ow“. Sie hatte dazu leider keine Idee.
Da ich mich bis dahin strikt geweigert hätte, eine andere Lösung als die Meine überhaupt in Betracht zu ziehen, muss ich seitdem immer wieder darüber nachdenken, wer denn die Eindeutschung eines slawischen Nachnamens vornimmt. Es muss ein Beamter des Einwohnermeldeamtes sein. Und da meine bisherige Theorie überhaupt nichts zu taugen scheint, habe ich mich jetzt darauf verstiegen, dass der Unterschied der Nachnamenendung im Osten und Westen der Bundesrepublik wurzelt. Während nämlich ein Ostdeutscher durchaus in den Genuss des Erlernens der russischen Sprache gekommen sein könnte, sich also mit der Eindeutschung russischer Nachnamen auskennen könnte, trifft das für Westdeutsche wahrscheinlich nicht zu. Eine Dienstanweisung wird es dazu wohl kaum geben. So sind also alle Emigranten, die im Ostteil der Republik eingebürgert wurden mit einem „-ow“ belegt, während die im Westen Eingebürgerten mit dem „-ov“ vorlieb nehmen müssen.
Das ist natürlich alles furchtbar einfach und erklärt in keinster Weise, welche Eingebungen ich denn noch zu erwarten hatte, aber darum ging es ja auch gar nicht.
Kennen Sie den Film „12 Monkeys“? Es geht um eine Jahrtausendseuche, die bis auf Wenige niemand überlebt. Um den Auslöser der Seuche ausfindig und unschädlich zu machen, schicken diese Wenigen ganz Wenige in die Vergangenheit zurück, um das Problem zu lösen. Die Wenigen, die zurückgeschickt werden, sind Strafgefangene und es ist mehr als fragwürdig, ob das Zurückgeschicktwerden freiwillig passiert. Der Film heißt so, weil sich im Verlauf des Films herauskristallisiert, dass eine Gruppe, die sich die Armee der 12 Monkeys nennt, dafür verantwortlich sein soll. Das stimmt natürlich nicht. Das kann gar nicht stimmen.
Die Armee der 12 Monkeys ist aber trotzdem hier, in der Gegenwart. Clou des Films war eine Telefonnummer, die angerufen werden sollte, damit sie in der Zukunft abgehört werden konnte, um den „Freiwilligen“ dann entweder zurückzuholen oder ihm neue Instruktionen zu geben. Und am Wochenende habe ich einen dieser Armee dabei beobachtet, wie er seine kryptische Botschaft in die Zukunft sandte. Ich war gerade dabei, die Reste des Grillabends aufzuräumen. Ich stand im Hinterhof und säuberte das Grillrost, als ich im Erdgeschoss, mir gegenüber einen dicken alten Mann entdeckte. Er wandte mir sein Profil zu, trug ein schmuddeliges Unterhemd und eine Glatze, die perfekte Tarnung. Mehr als die Glatze konnte ich selbst bei Zurschaustellung des Profils nicht sehen, weil er einen überdimensionierten grünen Telefonhörer an seinen Kopf hielt, genau da, wo das Ohr sitzt.
Mit der freien anderen Hand blätterte dieser gewaltige Berg Zukunft in Werbeprospekten herum, die zweimal wöchentlich mit einem Fitzel an gerade noch erträglicher Information ausgeliefert werden. Am Wochenende ist das meist das Fernsehprogramm, verpackt in Plastikfolie mit einem Berg Werbematerial örtlicher Supermärkte. Unter der Woche gibt es dann noch das Wochenblatt, was, wenn man es nicht richtig anpackt, beim Hochheben auseinanderklafft und den gesamten Hausflur mit buntem Papier bedeckt, Werbung. Sowohl auf das kostenlose Wochenblatt als auch das Fernsehprogramm kann jeder normale Mensch verzichten, deshalb landen in unserem Hausflur diese Pakete häufig ungelesen und unausgepackt in der Papiertonne. Bei dem Mann allerdings nicht.
Der sprach sitzend in die grüne Muschel und blätterte nach kurzer Ansage auf die nächste Seite. Ich konnte nicht hören, was er sagte, weil das Fenster geschlossen war und Lippenlesen fiel auch aus. Aber in mir dämmerte es so plötzlich wie nach einem verschlafenen Vormittag: „Leerdamer, Acht Scheiben, Einhundertsechzig Gramm, Einsneunundneunzig. Grünländer 8 Scheiben, Einhundertfünfundsiebzig Gramm, Einsneunundneunzig.“ Er war gerade auf der Käseseite. Er muss von der Marketingabteilung der vereinigten Käsereien der nördlichen Hemisphäre aus der Zukunft in unsere Zeit geschickt worden sein, um herauszufinden, ob es dem Jetztmenschen etwas ausmacht, wenn die Scheiben immer dünner werden, das Ganze aber immer das Gleiche kostet.
Der Clou nämlich ist nicht, dass die Zukunft zu uns kommt, um die Armee der 12 Monkeys zu finden, sondern, dass die Zukunft eine Armee von 12 Affen schickt, die uns ausspioniert, um uns in der Zukunft besser dressieren zu können. Falls Ihnen also einer der anderen 11 Affen begegnet, studieren Sie seine Gewohnheiten und geben Sie die Informationen in dieses grüne Blog hier ab, vielleicht können wir dann der Zukunft noch ein Schnippchen schlagen.
Früher war alles besser. Ich schneite gerade durch die Küche, als mich dieser Satz befiel. Mein Blick, getrübt durch allerhand Kaffee, wanderte zu einer fast völlig entleerten Minischaumkusspackung, deren Inhalt sich auf lediglich drei dunkle Minischaumküsse beschränkte. Ich hasse die dunklen, nur leider sind sie in der Überzahl und am Ende meistens übrig.
Schon seit geraumer Zeit denke ich mir, es müsste mehr Individualität geben, zum Beispiel Minischaumkusspackungen, wo nur hellbraune Minischaumküsse drin sind, oder kleine Gummibärenpackungen, wo nur grüne Gummibären Platz haben. Manche würden jetzt einwenden, dass die weißen doch viel besser schmecken, von mir aus also kann es auch Packungen mit weißen Minischaumküssen oder Gummibären geben.
Das Seltsame daran ist ja auch nicht mein Wunsch nach freier Farb- und Geschmackswahl, sondern vielmehr der Umstand, dass das absolut nichts mit früher zu tun hat. Früher konnte ich froh sein, wenn ich überhaupt mal einen Gummibären sah, von Negerküssen – so hießen die früher noch – mal ganz zu schweigen. Ich muss also feststellen, dass bis auf den mittlerweile reflektierten Umgang mit dem Wort Neger – in Gedanken schiebt sich immer noch der Negerkuss vor alle anderen Bezeichnungen – nichts anders geschweige denn besser geworden ist.
Mittlerweile habe ich alle drei Minischaumküsse verputzt. Ich beiße ihnen immer den Kopf ab, vielmehr ich beiße die Schokoladenhaube ab. Dann sauge ich vorsichtig den Schaum aus der Hülle. Es bleibt ein leerer Behälter aus dunkler Schokolade mit ein paar Resten von Schaum am unteren Ende. Bevor ich zum Schluss die Schokolade mit der Waffel esse, balanciere ich den Minischaumkuss von der rechten in die linke Hand und lecke mir die Finger ab. In diesem Verfahren bin ich gut.
Und weil ich mich so auf das Schreiben konzentriert habe, konnte ich gar nicht merken, wie scheußlich dunkle Schokolade auf Minischaumküssen schmeckt. Im Endeffekt sind die Minischaumküsse sowieso alle gleich und die Geschmacksrezeptoren behalten am Ende nur die Süße übrig. Was rege ich mich also auf? Keine Ahnung.
Eigentlich ging es um Landtagswahlen in Niedersachsen. Genauer, es ging um die Landtagswahlen vor geraumer Zeit, wo es der CDU/CSU zum ersten Mal gelang in Niedersachsen Fuß zu fassen. Christian Wulff war da nicht mehr als eine Randnotiz auf der Rückseite. Eigentlich war das Ganze nur eine Randnotiz. Es war die Notiz eines Kalenders aus dem Hause des Bertelsmann Verlages, den ich in meinem Weihnachtskalender fand, und der am 02. und 03.02. wie jeden Tag ein Abreißblatt für mich bereithielt, auf dem die eben geschilderte Notiz stand.
Der Abreißkalender hält für jeden Tag eine historische Notiz bereit. Auf der Rückseite stehen manchmal noch ein paar Erläuterungen oder die Antwort des vorn abgedruckten Rätsels – heute zum Beispiel war auf der Vorderseite ein Rätsel zu Rosa Parks drauf, bei dem man raten sollte, wo Rosa Parks einfach sitzen blieb und damit die Welt veränderte. Gestern aber stand eine Erläuterung zur Causa Wulff drauf. Sein Werdegang wurde nachgezeichnet und die letzte Position, die er laut Kalenderblatt des 03.02.2013 innehat, ist das Amt des Bundespräsidenten, welches er vor fast einem Jahr aufgegeben hatte. Was hat sich der Bertelsmann Verlag nur dabei gedacht?
Ich hätte gern einfach mal wieder ein bißchen Zeit, um was in mein Blog zu schreiben. Leider verhält es sich gerade so wie mit dem Schneetreiben da draußen: da denkt man für einen kurzen Moment, jetzt lässt es sich losgehen, aber sobald die Klamottenburg am Leibe sitzt und das Treppenhaus bezwungen wurde, weht einem körniges Eis in die Augen und Brauen.
Und wehe, es muss nach draußen gegangen werden, einen unvermeidbaren Weg erledigen. Da wird aufgeschoben, Zeit verplempert und lieber die ganze Wohnung mit dem Staubsauger von kleinem Split befreit, der sich unter den Schuhsohlen sammelt, als vor die Tür gegangen. Mit dem Schreiben ist es genauso. Lieber wird noch ein wenig gelesen, dort einmal reingeschaut und noch ein wenig Zeit verdaddelt und das dringend Wichtige bleibt liegen, wie der Schnee zur Nacht.
Jetzt ist es Abend und die letzte Gehwegräumung ist seit Stunden erledigt. Mich zwingt ein vergessenes Brot – es liegt noch ungekauft beim Bäcker – nach draußen, wie mich eine Vorbereitung auf ein Referat für morgen früh an den Rechner ruft. Und mir fällt nichts weiter ein, als diesem völlig nutzlosen Zeitvertreib nachzugehen. Ich sollte mich was schämen!
Ham'Se die letzten Tage schon mal rausjekuckt? Nee? Nich' schlimm, ham'Se nix verpasst. Die Sonne hängt in Höhe einer Kindergarderobe und wenn'Se ihr Jemüt dranhängen, wird‘s nur schmutzig, weil‘s über nassen Boden schleift. Da könn'S'es och gleich uffen Boden schmeißen.
Steh'n'Se bloß nich' so lange draußen rum, sonst kriejen'Se noch 'nen Moosbesatz an Ihrer Wetterflanke. Und sollte es bei'Se nich regnen, dann hau'n'Se bloß ab nach draußen und kucken hier nich' uff die windschiefen Zeilen!
Seit ein paar Tagen begegnet mir auf dem Weg nach Hause immer dieselbe alte Dame. Morgens gegen 8:00 Uhr verlasse ich mit meinem Sohn das Haus, er sitzt im Kinderwagen und erklärt mir, was er so alles sieht, und wenn wir dann die Kita erreicht haben, steigt er aus, er klingelt an der Eingangstür und wird dann von mir verabschiedet. Auf dem Rückweg – es kommt darauf an, wie zeitig vorher alles abgelaufen ist – treffe ich sie. Sie trägt eine grauhaarige, struppige Dauerwelle, ihr Gesicht ist von kleinen roten Äderchen gezeichnet und darin liegen, weit hinten, zwei klitzekleine, spitze, wache Augen. Ein dicker beigefarbener Mantel reicht ihr bis über die Beine, die nicht mehr stark genug sind, sie von allein zu halten, sie schiebt eine Gehhilfe vor sich her und unablässig schüttelt sie ihren Kopf.
Manchmal, wenn ich sehr spät aus der Kita komme, sehen wir uns vorn an der Limmerstraße, dort wo der Edeka bereits seine Tore geöffnet hat. Am Anfang dachte ich, sie wohnt in dem Altenheim, das direkt über dem Geschäft liegt. Aber wenn ich sehr früh aus der Kita komme, dann begegnen wir uns bereits an der Grundschule am Pfarrlandplatz, dort wo zu dieser Zeit gerade die letzten Eltern ihre kleinen Wunder in die Schule bringen. Dann wackelt sie resolut mit ihrem Gefährt durch die schmalen Gassen der parkenden Autos, umschifft Pfützen, schwatzende Eltern und Seitenspiegel. Aber es ist egal, wo wir uns treffen. Immer grüßt sie mich freundlich, als ob wir uns seit Jahren kennen.
Natürlich kenne ich sie. Ich kannte sie schon immer. Ob sie nun Frau Lampe hieß und die Mutter des mittlerweile selbst in die Jahre gekommenen Nachbarn meiner Eltern war und dort oben in der zweiten Etage des Reihenhauses mit Minka, ihrer Katze, lebte. Oder ob es Frau Kober war, die gegenüber von unserem Garten ihren Garten hatte, in dem ein herrlich großer Aprikosenbaum steht. Oder die alte Frau Obenauf, die so kurz nach der Wende als fast einzige in der Straße ein Telefon besaß, von dem aus ich einmal den Notarzt rufen musste. Oder die Eltern von Nachbarskindern, mit denen ich spielte. Immer grüßten sie. Bis ich irgendwann zuerst grüßte. Bis ich alt genug war, diesem Ritual etwas abzugewinnen und für mich beschloss, dass es ein Privileg der Jugend ist, zuerst grüßen zu dürfen. Nie wäre mir der Gedanke gekommen, grüßen zu müssen. Ich handelte und handele in dieser Sache immer als freier Mensch, der sich aussucht, wen er grüßt und wen nicht, und der eben immer zuerst grüßt, weil er jünger und schneller ist.
In unserer Straße wohnte auch eine Familie, die eine Tochter hatte. Ich kann mich nicht mehr an den Familiennamen erinnern aber in der Auffahrt stand später immer ein großer beigefarbener Opel Vectra. Ein Birnbaum musste diesem Gefährt weichen. Steffi war ein Jahr älter als ich. Einmal klingelten wir, die Kinder vom Dahlienweg, bei ihr, um sie zum Spielen in unserer Straße abzuholen. Sie durfte aber nicht raus. Seitdem habe ich ihren Vater nicht mehr gegrüßt. Immer wenn er an mir vorüber ging, was allerdings auch selten genug vorkam, weil dieser Bereich der Straße abseits unseres kleinen Zentrums lag, schaute ich ihn kurz an und ging dann grußlos an ihm vorbei. Das war meine Strafe für ihn, weil Steffi an diesem Tag nicht mit uns spielen durfte.
Als ich längst nicht mehr in Magdeburg wohnte, traf ich ihn irgendwann erneut und machte meinen Frieden mit ihm. Ich grüßte ihn wieder. Er wird das nicht verstanden haben, damals wie heute, er wird sich daran wahrscheinlich gar nicht erinnern. Wie er mich leicht konsterniert angesehen hatte, als sich unsere Wege grußlos kreuzten. Es ist auch das einzige Mal, an das ich mich erinnern kann, wo ich - heute würde ich sagen, aus einer Laune heraus – mir, der Entscheidung zu grüßen, absolut sicher war und trotzdem nicht gegrüßt hatte. Die Illusion, mit dem Gruß frei gewesen zu sein, hält sich noch immer.
In meinem jetzigen Wohnhaus leben außer unserem Jungen noch zwei weitere Kinder, die ich ebenfalls grüße, zuerst versteht sich. Sie schauen ähnlich konsterniert, wenn ich Hallo sage, wie der Vater damals, aber sie grüßen mich immer regelmäßiger zurück. Neulich haben sie sogar zuerst gegrüßt, als wir uns auf der Straße begegneten. Da war ich der Verwirrte, weil ich die beiden Kiddies gar nicht auf dem Schirm hatte, meine Gedanken waren woanders. Und als mich die alte Dame zum ersten Mal gegrüßt hatte, war ich in einer ähnlichen Stimmung. Ich war so perplex, dass ich darüber beinah nichts erwidert hätte. Ob sie das wahrgenommen hatte, weiß ich nicht, ich holte das schnell nach und grüßte hastig und leise in ihren Rücken. Ertappt hatten sie mich. Sie, die Kinder aus der Nachbarschaft und auch die alte Dame auf ihrer allmorgendlichen Mission.
Heute sah ich die Alte bereits von weitem. Unsere Wege sollten sich an besagter Grundschule kreuzen und sobald sie in Hörweite an mich heran gerollt war, hob ich zum Gruße an. Einen Guten Morgen wünschte ich ihr und war irgendwie stolz darauf. Sie grüßte natürlich zurück, verzog aber sonst keine Miene. Kein noch so kleiner Anflug von Ironie umspielte ihre Lippen, kein Aufblitzen in ihren kleinen schwarzen Augen ließ erkennen, dass sie nun erreicht hatte, was sie wollte. All das eben Geschriebene lief in einem farbigen Bilderbogen vor meinem geistigen Auge ab. Ich fühlte mich plötzlich so jung, wie schon lange nicht mehr. Ich wäre am liebsten links abgebogen und hätte meinen Ranzen schlenkernd, laut krakelend in die Schule rennen wollen, um eine lange Reihe kleiner f’s in mein Heft zu schreiben.
Ich hätte auch hinter einem Regal in zweiter Reihe stehen können, oder gerade beim Suchen nach Speisestärke in Gang drei, als die Kassiererin eingangs des Ladens an der Kasse plötzlich in ihr Mikro schreit: „Wir brauchen ganz dringend einen Notarzt!Ausrufezeichen!“
Die verunglückte Frau ist weißhaarig, dick und trägt ihre Krücken im vor ihr platzierten Einkaufswagen mit. Zwei Leute sind sofort zur Stelle aber die Frau kann nicht aufstehen. Die Kassiererin, die ganz dringend einen Notarzt bestellt hat, kassiert nicht mehr. Sie dreht sich nach allen Seiten um, ob nicht vielleicht ein Arzt im Geschäft herumstreunt und gleich seinen Kittel aus dem Koffer holt, das Stethoskop unter dem Pullover hervorzieht und mit routiniert modulierter Stimme um kaltes Wasser und Platz zum Arbeiten bittet.
Es kommt aber kein Arzt. Die Frau ist mit Hilfe einer weiteren Person und unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft wieder zum Stehen gekommen. Den Schrei, den sie dabei ausgestoßen hat, hätte ich wahrscheinlich in Reihe drei ganz hinten gehört, dort wo die Milch steht und die Butter. Ohne Zweifel hätte ich dort auch den Ausruf der Kassiererin gehört, wie sie mit abfallender Stimme ins Mikro ruft: „Hat sich erledigt!“ Gut, dass ich vorn an der Kasse stehe und mit eigenen Augen sehen kann, dass es der Frau gut geht. Manchmal ist es ja doch schön, wenn sich etwas erledigt.
Leider war ich heute Morgen auf der "falschen" Straßenseite unterwegs, denn mir bot sich ein wirklich grotesker Anblick. Eigentlich bot sich mir dieser Anblick gerade deswegen, weil ich auf der falschen Straßenseite unterwegs war, weshalb ich mich durchaus fragen könnte, was denn nun eigentlich zuerst da war. Und drehte sich diese Episode nicht so herrlich um sich selbst, wäre sie auch keine Erwähnung wert gewesen, aber ich sollte nun wirklich davon anfangen, sonst ist nachher alles schon verraten, bevor ich überhaupt dazu kommen konnte, sie zu erzählen.
Ich ging also heute Morgen gegen kurz vor 8 aus dem Haus und mir bot sich ein völlig normales Bild. Mein Sohn, dessentwegen ich überhaupt das Haus verließ – er wurde von mir zur Kita chauffiert – sang ein mit der allseits bekannten Melodie unterlegtes, lautes „Tatütata“ und ich, in Erwartung einer Sirene, spitze die Ohren. Die Augen hätte ich richten sollen, denn sein Ton galt einem stummen Martinshorn, einem ausgeschalteten Blaulicht auf dem Dach eines T4 auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Das Polizeiauto stand direkt in der Ausfahrt einer Kreuzung, versperrte sowohl den abgesenkten Bordstein des Fußweges als auch die Einmündung der Straße. Mit dem Kinderwagen, wäre ich auf dieser Straßenseite unterwegs gewesen, hätte ich einen großen Umweg in Kauf nehmen müssen, um daran vorbei zu manövrieren. Da ich aber auf der „richtigen“ Straßenseite ging, war alles kein Problem. Schaulustig besah ich mir also das Treiben der beiden Beamten. Eine Polizistin saß mit einem Gerät bewaffnet auf dem Beifahrersitz und tippte darauf herum, während ihr Kollege in der offenen Tür stand und seine Hand bereithielt. Sogleich entsprang dem Gerät ein Zettel, dieser, vom Polizisten abgerissen, wanderte von der Hand getragen zur gegenüberliegenden Einmündung der eben beschriebenen Straße und wurde dort an einem roten Fahrzeug befestigt.
Das rote Fahrzeug nämlich, parkte so dicht an der Kreuzung, dass sowohl die Einfahrt in die Kreuzungseinmündung für andere Autos als auch die Benutzung des abgesenkten Bordsteins für Fußgänger maßgeblich erschwert wurde. Ich habe mich nicht getraut, einen Zettel aus meinem Notizbuch zu reißen und den beiden Polizisten ans Auto zu heften, weil sie die Straße und den Fußweg versperrten. Ob sie es mit Humor genommen hätten, das habe ich mich trotzdem gefragt.
Das Wochenende ist umgebracht. Es folgt, wie meistens, ein Montag, der mit sinnloser Hetze beginnt, in Kaffee mündet und dem ersten, richtigen Einschalten des Computers seit Freitag. Kaffee. Folgt man der etymologischen Spur dieses Gemütserregers, so endet man beim
arab. qahwa, das laut Wörterbuch sowohl für Wein als auch für Kaffee stehen konnte. Daneben steht das
türk. kahve wohl ebenfalls Pate, denn die venezianischen Kaufleute brachten den Kaffee nach Italien im 16. und 17. Jh. Schaut man dem Wein auf seine etymologischen Wurzeln, so erreicht man, nachdem das
lat. vinum abgehakt wurde, den Pontus, bzw. Südkaukasus als Heimat der Weinkultur. Es gibt also einen Hinweis vom Kaffee zum Wein aber nicht umgekehrt. Dass es überhaupt einen Hinweis auf Wein gibt, wenn man Kaffee im etymologischen Wörterbuch nachschlägt, ist für sich genommen ja schon erstaunlich genug. Folgt man aber genau dieser Spur, stellt man nach geraumer Zeit der Recherche fest, dass sich bis auf wenige Gemeinsamkeiten kaum Hinweise finden lassen, die einen brauchbaren Zusammenhang zwischen beiden Getränken herstellen.
Vielleicht war die Erwähnung des Weines im Kaffeeartikel des etymologischen Wörterbuches ja nur Zufall? Vielleicht war es aber auch ein Überbleibsel aus längst vergessenen Tagen, als der Wein und auch der Kaffee noch als Begrüßungsgetränk gereicht wurde. Hinweise dafür ließen sich sogar finden. 1864 hieß es in einer
Zeitschrift dazu:
„Kaum 150 Jahre hatten ausgereicht, den Kaffee im ganzen Orient einzubürgern. Sogar Indien wurde schon sehr frühzeitig mit demselben bekannt. Bereits 1642 brachten die Holländer 83,540 Pfd. dorthin. Und noch heute steht dieses Getränk in der ganzen orientalischen Welt in hohem Ansehen. Es ist wie bei uns der Wein das Ehrengetränk, mit welchem man den Gast zu jeder Tageszeit bewirthet. Überhaupt vertritt der Kaffee bei den Muselmännern die Stelle des Weines, dessen Genuß der Koran aus ähnlichen Rücksichten verbietet wie Moses seinen Juden das Essen des Schweinefleisches…“
Über meine Recherche ist der Kaffee kalt geworden. Ich werde nicht darum herumkommen, ihn noch einmal aufzuwärmen. Diesmal lasse ich mich aber nicht vom kalten Kaffee der Etymologie ablenken und komme besser gleich zur Sache.