Ohne Brille
Wenn du in einem Stadtviertel lebst, bei dem die Weihnachtsbaumbeleuchtung auf Halbmast hängt, ist entweder der Weihnachtsmann gestorben oder die Stadtverwaltung muss noch die jüngsten Einsparungen in ihrer Gemeinde verdauen. Weitere Erklärungen, auch wenn ich sie mir lieber nicht vorstellen möchte, überlasse ich den geschätzten Lesern. Ich wünsche eine allseits besinnliche Vorweihnachtszeit (hoffentlich ist er nicht tot)!
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Motivation gefällig?
Neulich sah ich einen Typen im Holzfällerhemd direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite am helllichten Tag gegen einen Stromkasten pinkeln. Sein Bier stand auf dem Stromkasten.
Heute Abend sah ich den gleichen Typen zehn Meter weiter rechts stehen und ich wollte mich gerade wieder aufregen, als ich merkte, dass da überhaupt niemand steht. Das war nur eine Lücke im Efeu, durch die das Gemäuer hindurchschien.
Ich saß gerade in der Nordstadt vor dem Spandau und trank einen Kaffee, als eine alte Dame mit einem Rollköfferchen an mir vorbei fahren wollte. Sie hatte schrecklich dünne O-Beine und ich lächelte ihr aufmunternd zu. Sie lächelte nicht zurück, verlangsamte jedoch ihren Gang und bog ab, direkt auf mich zu.
„Heute sind schon wieder Mörder auf der Straße“, sagte sie und zeigte in Richtung Christuskirche.
„Was?“ ich hatte irgendwie nicht richtig verstanden, glaubte ich.
„Mörder. Heute Morgen gegen sechs Uhr war ich da, weil ich da wohne, an der Christuskirche.“
„Mörder?“
„Ja, heute Morgen, weil ich da wohne. Ein eins achtzig großer Arbeitsloser hat mich in den Arm gekniffen und festgehalten. Dann hat er ein Messer gezogen und es mir hier“, sie zeigte auf ihren dünnen Hals, „ hin gehalten.“
„Was?“
„Ja. Weil ich ja da wohne, an der Christuskirche. So, jetzt muss ich aber weiter, ins Krankenhaus, mein Mann liegt dort, er ist schwerkrank.“
„Oh, äh, na dann, äh gute Besserung“, stammelte ich. Mir fiel einfach nichts ein. Sie winkte mir noch kurz, dann drehte sich die Alte um und humpelte mit ihrem Rollkoffer weiter den E-Damm hinunter.
Seit einem Paar Wochen, genauer seit Beginn meines Praktikums, komme ich immer wieder an dieser Straße vorbei. Glücklicherweise bin ich dem Radfahrer, vor dem hier gewarnt wird, noch nicht persönlich begegnet...
Ich sollte mehr Sport treiben, war mein erster Gedanke, als ich an einem Sonntagabend ins Theater kam, um meiner Tätigkeit dort nachzugehen. Dieser Gedanke rührte daher, dass ich den Fahrstuhl rief, obwohl es nur drei Stockwerke zu erklimmen galt. Gerade eingestiegen und die gewünschte Etage gedrückt, fiel mir auf, dass das Licht des Knopfes für die dritte Etage nicht funktionierte. Plötzlich zeigten alle Pfeile nach oben und ich dachte noch, dass jetzt entweder jemand anderes den Fahrstuhl benutzen wollte oder dass ich tatsächlich in der dritten Etage landen würde.
Auf dem Rückweg dann fuhr ich aus alter Gewohnheit die Goseriede entlang, obwohl sie mich gar nicht mehr auf bestem, höchstens noch auf drittbestem Wege nach Hause beförderte. Den Umweg nahm ich in Kauf. Weniger erfreut war ich jedoch über den Umstand, dass die Sensoren im Straßenpflasterbereich scheinbar nicht mehr funktionierten, denn die automatische Rotauslösung der eigens für Radfahrer und Fußgänger errichteten Ampel ließ sich durch meine Überfahrt nicht zum Einschalten bewegen.
Und am Dienstag stehe ich an einer anderen Fußgängerampel und betätige das Sensorfeld mit der Hand, doch die Leuchte zeigt mir nicht an, ob sich mein Warten auszahlt oder ob die Ampel kaputt ist. Ich denke zum ersten Mal darüber nach, was das wohl zu bedeuten hat.
Und wenn ich nicht am Dienstagabend ein weiteres Mal im Theater gewesen wäre und nicht auch noch die Leuchte der zweiten Etage am Lastenaufzug kaputt gewesen wäre, ich schwöre, mir wäre nie etwas über die Lippengekommen deswegen, aber so.
Synchronzität nannte Jung das. Ich landete in der dritten Etage, die Ampel schaltete irgendwann auf Rot, genauso wie die andere und auch der Lastenaufzug hielt im zweiten Stock. Vielleicht sollte ich, statt mich mit Sport zu überfordern, erstmal nach einer Brille Ausschau halten.
Manchmal habe ich so unverschämt viel Zeit, dass ich mir dabei selbst nicht über den Weg traue. Kennen Sie das? Bei mir äußert sich das zum Beispiel, indem mir beim Lesen plötzlich eine Stelle im Buch derart komisch vorkommt, dass ich völlig entrüstet aus meinem Lesefluss hochschrecke und mit einigem Abstand sowohl den Inhalt als auch die Form überprüfe.
Als ich neulich am Strand zum Arbeiten war und an alles andere dachte, als Zeit zum Lesen zu finden, kam genau so ein selbstgemachtes Problem auf mich zu. Ich las und las und als ich diesen i-Punkt sah, wie er da über dem i thronte, da war es schlagartig geschehen um meine Konzentration. Ich vermutete einen Druckfehler dahinter und fragte mich noch, wie so etwas denn passieren konnte, als mir klar wurde, dass alles seine Richtigkeit hat. Der gehört da hin, kein Grund zur Aufregung, ruhig bleiben. Je länger ich ihn ansah, umso mehr gewöhnte ich mich an den Anblick. Zuletzt war er wieder so unauffällig wie zuvor.
Kurze Zeit später kamen die ersten von ca. 2000 Ruderbooten auf Betriebsausflug und ich sollte keinen einzigen Buchstaben mehr zu lesen bekommen.
Als ich heute Morgen meinen Sohn zur Kita gebracht hatte und mich danach darauf verstieg, zum Supermarkt zu laufen wegen eines Stücks Butter, da war von der Hitze noch nicht viel zu spüren. Ich dachte jedenfalls, dass ich davon nicht allzu viel spürte, weil ich zuvor ja meinen Sohn auf den Schultern getragen hatte. Die daraus resultierende Anstrengung und der leichte Schweißfilm also waren nichts, worüber ich mich beunruhigen müsste.
Auf dem Rückweg jedoch, als mir nach Verlassen des Supermarktes, der übrigens ordentlich heruntergekühlt worden war, die Hitze wie eine Ohrfeige um das Gesicht schlug, da wusste ich, es ist Zeit, aus der Sonne zu gehen. Ich schlug einen Weg durch den Schatten ein. Alte und große Bäume stehen hier entlang des Schnellwegs, der direkt neben meinem Pfad eine Auffahrt hat. Dort wird das Blätterrascheln noch vom Motorenlärm übertönt, wenn denn der Wind durch die Blätter rauschen würde.
Ein Stück weiter den Pfad entlang, der Schnellweg biegt nach links ab - oder ist es mein Weg, der nach rechts abbiegt? - wird es leiser. Fast flüsterleise. Bis auf den Vogel, der mir schon weiter oben aufgefallen war und mich von Baumwipfel zu Baumwipfel zu begleiten scheint. Ich kann den Gesang nicht zuordnen. Bleibe ich stehen und sehe mich nach ihm um, dann kann ich ihn nicht entdecken, dann ist es still. Fröhlich zwitschert er wieder, sobald ich mich in Bewegung setze.
Als ich das Ende des Wegs erreiche und wieder auf die Straße komme, zwitschert der Vogel immer noch. Aber weder auf einem Garagendach noch auf einem Fenstersims ist etwas zu sehen. Ich werde noch verrückt, denke ich, trinke einen Schluck aus dem Wegwasser, schaue nach unten auf meine Füße, die in Flip Flops stecken und vor sich hin schwitzen. Dann wird mir alles klar. Ich gehe ein Stück, ohne meine Füße aus den Augen zu lassen und siehe da, von dort kommt das Zwitschern: nasse Haut auf Gummi.