Die kurze Nacht zum Mittag
Es gibt ein paar Begebenheiten im Leben, die werden erst so richtig wichtig, wenn man schon gar nicht mehr an sie gedacht hat. Dann schmiegen sie sich wie ein Schatten zur Mittagszeit ganz eng an die Körpermitte und verharren da, als würden sie dazugehören. Mittag ist dabei übrigens mehr als nur ein Stichwort. Zur Mittagszeit hieß es im Haus meiner Eltern, Ruhe zu bewahren. Ruhe im Sinne von Mittagsruhe. Ich erinnere mich an so manchen Mittagsschlaf, den ich auszubaden hatte, obwohl ich überhaupt nicht müde war. Ich lag dann häufig auf einem Sofa herum und starrte in das Bücherregal meiner Eltern. „Die Beatles – Ihr Leben und ihre Lieder“ konnte ich damals auf dem Buchrücken lesen oder „Amanda – Ein Hexenroman“. Bei den Beatles habe ich lange Zeit nicht gewusst, worum es ging, schließlich war es mir zwar nicht verboten, während des Mittagsschlafes die Buchrücken zu lesen, ein Buch herauszunehmen aus dem Regal, kam mir deshalb aber nicht in den Sinn. Außerdem war ich noch halber Analphabet, ich konnte geradeso lesen und las deshalb: „Die Be-at-les“, ich fragte mich oft, wer die Be-at-les wohl gewesen sein mussten, kurz ich hatte keine Ahnung.
Zu meiner Kindheit musste ich bis in die erste Klasse hinein Mittagsschlaf halten. Ich war so froh, als es nur wenig später nach meiner Einschulung hieß, meine Mutter holt mich vor dem Mittagsschlaf aus der Schule heraus. Meine Mutter war zu dieser Zeit zu Hause, weil mein Bruder kurz zuvor geboren wurde. Das ersparte mir die Mittagsruhe nicht, bedeutete aber keine halbe Stunde auf einer Holzpritsche mit Minimalbedeckung (Matratze konnte man den Lappen nicht nennen) im kalten Keller der Clara Zetkin Schule. Und ich hatte noch Glück, ich lag in der Nähe des Fensters und konnte manchmal einen Blick auf die Beine von Vorübergehenden erhaschen, Schritte zählen und mir ausmalen, wohin sie gingen, die Beine. Frau Skroplin unsere Hortnerin war zwar alt und milde, aber beim Mittagsschlaf kannte sie kein Pardon. „Augen zu!“, zischte sie, wenn sie uns beim Kiebitzen erwischte. Ich hielt mir immer die gefalteten Hände vor das Gesicht und lugte durch die Finger hindurch. Keine Regung ließ ich erkennen außer den perfekt einstudierten, regelmäßigen Atem. An ihre leicht gräuliche Dauerwellenfrisur und an ihr Kürzel in unseren Hausaufgabenheften kann ich mich noch erinnern. Sie unterschrieb immer mit „Skr“ und hätte ich damals gewusst, dass es ein Wort wie „obszön“ gibt, ich hätte mich für dieses Wort entschieden beim Anblick ihrer Unterschrift. Eigentlich war sie aber eine furchtbar nette Person und als ich dann zum „Heimschläfer“ wurde, bekam ich auch nur noch ihre netten Seiten zu Gesicht.
Als ich alt genug war, die Mittagsruhe nicht mehr liegend zu verbringen kam mir der Zeitverlauf natürlich noch quälender vor als sonst. Schließlich passierte es zu Zeiten des verordneten Mittagsschlafes nicht selten, dass ich trotzdem einschlief und die Zeit viel schneller verging als im Wachzustand. Ich machte mir anfangs zunutze, dass mein Vater auf fast alles mit „ja“ antwortete, wenn er während des Mittagsschlafes seine Ruhe haben wollte. Das ging so lange gut, bis ich ihn einmal gefragt habe, ob ich ins Schwimmbad gehen darf. Ich ging mit meiner Schwester hin und unsere Mutter suchte uns überall. Mein Vater konnte sich natürlich an nichts erinnern, erst recht nicht, uns das erlaubt zu haben. Aber mein Vater lernte im Schlaf, er antwortete von da an nur noch mit „nein“, wenn ich ihn etwas fragte.
Und gestern war Sonntag, Mittagszeit. Es wurde eine Waschmaschine angeliefert, über uns wurden Dielen geschliffen, vom Fenster drang laute Musik herein und ich sehnte mich zurück in das Wohnzimmer meiner Eltern. Ich hätte sogar mit dem kalten Keller vorliebgenommen für eine halbe Stunde Ruhe. Ich schlief trotzdem ein, so müde war ich.
Zu meiner Kindheit musste ich bis in die erste Klasse hinein Mittagsschlaf halten. Ich war so froh, als es nur wenig später nach meiner Einschulung hieß, meine Mutter holt mich vor dem Mittagsschlaf aus der Schule heraus. Meine Mutter war zu dieser Zeit zu Hause, weil mein Bruder kurz zuvor geboren wurde. Das ersparte mir die Mittagsruhe nicht, bedeutete aber keine halbe Stunde auf einer Holzpritsche mit Minimalbedeckung (Matratze konnte man den Lappen nicht nennen) im kalten Keller der Clara Zetkin Schule. Und ich hatte noch Glück, ich lag in der Nähe des Fensters und konnte manchmal einen Blick auf die Beine von Vorübergehenden erhaschen, Schritte zählen und mir ausmalen, wohin sie gingen, die Beine. Frau Skroplin unsere Hortnerin war zwar alt und milde, aber beim Mittagsschlaf kannte sie kein Pardon. „Augen zu!“, zischte sie, wenn sie uns beim Kiebitzen erwischte. Ich hielt mir immer die gefalteten Hände vor das Gesicht und lugte durch die Finger hindurch. Keine Regung ließ ich erkennen außer den perfekt einstudierten, regelmäßigen Atem. An ihre leicht gräuliche Dauerwellenfrisur und an ihr Kürzel in unseren Hausaufgabenheften kann ich mich noch erinnern. Sie unterschrieb immer mit „Skr“ und hätte ich damals gewusst, dass es ein Wort wie „obszön“ gibt, ich hätte mich für dieses Wort entschieden beim Anblick ihrer Unterschrift. Eigentlich war sie aber eine furchtbar nette Person und als ich dann zum „Heimschläfer“ wurde, bekam ich auch nur noch ihre netten Seiten zu Gesicht.
Als ich alt genug war, die Mittagsruhe nicht mehr liegend zu verbringen kam mir der Zeitverlauf natürlich noch quälender vor als sonst. Schließlich passierte es zu Zeiten des verordneten Mittagsschlafes nicht selten, dass ich trotzdem einschlief und die Zeit viel schneller verging als im Wachzustand. Ich machte mir anfangs zunutze, dass mein Vater auf fast alles mit „ja“ antwortete, wenn er während des Mittagsschlafes seine Ruhe haben wollte. Das ging so lange gut, bis ich ihn einmal gefragt habe, ob ich ins Schwimmbad gehen darf. Ich ging mit meiner Schwester hin und unsere Mutter suchte uns überall. Mein Vater konnte sich natürlich an nichts erinnern, erst recht nicht, uns das erlaubt zu haben. Aber mein Vater lernte im Schlaf, er antwortete von da an nur noch mit „nein“, wenn ich ihn etwas fragte.
Und gestern war Sonntag, Mittagszeit. Es wurde eine Waschmaschine angeliefert, über uns wurden Dielen geschliffen, vom Fenster drang laute Musik herein und ich sehnte mich zurück in das Wohnzimmer meiner Eltern. Ich hätte sogar mit dem kalten Keller vorliebgenommen für eine halbe Stunde Ruhe. Ich schlief trotzdem ein, so müde war ich.
Shhhhh - 12. Aug, 15:06